«Wo ist mein Vater?»

Nigeria: Joseph* erzählt uns seine Geschichte:

«Ich war 14 Jahre alt. Meine Eltern waren nicht bei uns, als das Dorf angegriffen wurde. Ich schnappte mir meine beiden kleineren Brüder und wir flohen. Von Dorf zu Dorf. Die Männer Boko Harams waren einfach überall. Überall hörten wir Schüsse, den Ruf ‹Allahu Akbar› und schreckliche Schreie. Tag für Tag versteckten wir uns im Busch, rannten weiter, aber fanden keinen Ort ohne diese Klänge. Ich wusste, dass ich die grösste Gefahr für meine Geschwister war. Boko Haram wollte alle Männer töten, und ich war in ihren Augen bereits ein Mann. Als ich unsere Nachbarn versteckt fand, bat ich sie darum, meine beiden Brüder zu nehmen. Ich musste alleine weitergehen, um sie nicht zu gefährden.

Und so floh ich nach Minchika. Es gab viele Flüchtlinge und kaum jemand hatte ein Handy, deshalb mussten wir uns alle Informationen mündlich holen. Jemand hatte meine Mutter gesehen – in einem Ort namens Mitho. Deshalb schlug ich mich bis dorthin durch. Und tatsächlich: ich fand sie! Ich war so erleichtert. Gemeinsam reisten wir zu den Nachbarn, um meine beiden Brüder abzuholen. Jetzt waren wir fast alle wieder vereint – doch wo war mein Vater? Lebte er noch?

In Yola fanden wir dann einen sicheren Ort. Hier konnten wir bleiben. Doch nur, weil man nicht mehr verfolgt wird, geht es einem nicht automatisch gut. Unser Leben war sehr schwer. Wir hatten kein Geld und konnten keine Wohnung finden. Wir lebten auf der Strasse. Ich und meine Brüder übernahmen kleine Jobs, Botengänge und harte Arbeit, um etwas Geld zu verdienen. Irgendwann konnten wir dann ein Zimmer mieten.

Von da an wurde es besser. Ich bekam die Möglichkeit, meinen Schulabschluss nachzuholen. Hier waren alle sehr nett und aufmerksam. Und doch quälten mich meine Gedanken. Lebte mein Papa noch? Wo war er, was machte er? Oder war er getötet worden? Wie?

Mittlerweile bin ich 20 Jahre alt. Und vor kurzem geschah das Unfassbare – ein Nachbar rannte auf mich zu. ‹Ich habe deinen Vater gesehen!›, rief er laut. Ich glaubte ihm nicht. Aber wir fuhren in das Dorf, das er besucht hatte. Und da war mein Vater! Jetzt waren wir wieder alle zusammen. Ich konnte meine Angst endlich loslassen.»

*Symbolbild, Name von der Redaktion geändert.