«Stellen Sie sich vor»

Ostasien: Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Land, in dem man nicht selbst denken darf. Alles ist vorgegeben. Wann man aufsteht. Was man anzieht, wo man lebt. Wie viel man isst. Wer dem Staat treu ergeben ist, bekommt mehr zu essen. Wer eine schwierige Vergangenheit hat – ein falscher Kommentar, eine kritische Einstellung, ein Fluchtversuch, eine andere Religion – der bekommt weniger.

Stellen Sie sich vor, von Kindheit an wird Ihnen beigebracht, einfach zu gehorchen. Genau das zu tun, was man oben möchte. Schön in der Schlange stehen, niemals widersprechen. Die Handgriffe genau kopieren, die die Regierung für Sie vorgesehen hat. Und immer in Bewegung bleiben, niemals Faulheit zeigen. Wenn die Arbeit in der Firma ausgeht, dann bauen Sie Tische auseinander und wieder zusammen. Einfach, damit Sie in Bewegung bleiben.

An Feiertagen üben Tausende Menschen Tänze ein. Sie bewegen sich ganz genau synchron, keiner weicht ab. Aus Angst. Stellen Sie sich vor, dass Sie das schön finden – müssen.

Aber Ihre Gedanken, die kann niemand kontrollieren. Das können nur Sie selbst. Und sie denken an vieles, was verboten ist. Sich zum Beispiel ein Leben im anderen Land vorzustellen. Ein Land, das nicht von der Mauer eingekreist ist, in dem die Menschen nicht hungern und Tische auseinander bauen müssen. Ein Land, das so ganz anders ist.

Wie so viele andere wagen Sie es eines Tages zu fliehen. Es war von langer Hand vorgedacht, und niemand erwischt Sie dabei. Glücksgefühle jagen Ihnen durch den müden Körper. Doch das bleibt nicht lange. Sie sind in China, und hier jagt man Menschen wie Sie. Sie müssen sich verstecken, halten sich im Wald auf, essen Gras. Das kennen Sie. Aber Sie wünschen sich so sehr, endlich anzukommen.

Nach über einem Jahr ist es so weit – Sie können in ein sicheres Land weiterreisen. Es nimmt ein Ende! Alles nimmt ein Ende. Als sie aus dem Schiff steigen, haben Sie nichts bei sich ausser die Kleidung, die Sie tragen. Um Sie herum ist alles hektisch. Menschen steigen ein und aus, sie rufen in kleine Vierecke. Ihre Kleider funkeln und rascheln, sie sind grell. Schon nach kurzer Zeit müssen Sie sich hinsetzen, es ist einfach zu viel. Doch ein Mann in Uniform verscheucht Sie. Im Land der Freiheit darf man nicht auf dem Trottoir sitzen.

Die Regierung organisiert Integrationskurse für Menschen wie Sie. Jeden Morgen setzen Sie sich in einen Klassenraum und lernen, dass es in Ordnung ist, seine Gedanken zu äussern. Sie lernen, mit Geld umzugehen, und Männer wie Frauen in die Augen zu schauen.

Stellen Sie sich vor, wie laut und schnell alles ist. Und unverständlich. Noch nie durften Sie selbst etwas entscheiden, und jetzt leben Sie alleine in einem kleinen Studio in einer riesengrossen Stadt, die auch nachts lauter ist als alles, was Sie bisher erlebt haben.»